Meine Freundin ist sehr tierlieb. Wenn sie eine Winkelspinne sichtet, greift sie zum Glas und stülpt es liebevoll über das verwunderte Tier. Und dann setzt sie es liebevoll an die frische Luft. Sie ist auch schon immer gerne in den Zoo gegangen, um sich dort rumtigernde Tiger, gemütliche Riesenschildkröten und echte Been-too-Wrongs anzusehen, die auf Deutsch viel zu falsch Binturongs heißen. Im Zoo hat sie sogar einmal ein Praktikum gemacht – im Vogel-Department. Futter mischen, Volieren ausmisten, Federn lesen – solche Dinge.
Dann aber hat sie sich plötzlich eine neue Spiegelreflexkamera gekauft und ist schnurstracks aus dem geschützten Raum des heimischen Zoos in die weite Welt hinaus gelaufen. Seither fotografiert sie Vögel, die sich ihr Futter selber suchen müssen und hinter denen niemand herfegt. Sie lichtet nun faule süddeutsche Rotmilane mitten im Winter ab, hält diebische Rabenkrähen für die Ewigkeit fest, die sich ein Frühstücksei stibitzt haben, und entdeckt glänzende Kostbarkeiten wie Goldammern in der Streuobstwiese, Pfeifenten aus Kamtschatka und Wintergoldhähnchen, die aufgeregt die gefrorenen Früchte eines Busches naschen.
Sie ist so gut wie immer draußen, und ich trabe hinterher. Manchmal sehe ich ein gefiedertes Etwas, bevor sie es entdecken konnte, und habe damit meine eheliche Pflicht für diesen Tag maßvoll erfüllt.
Diese Woche waren wir im Rheindelta. Davon gibt es ja zwei: eines in den Niederlanden und eines zwischen Österreich und der Schweiz, wo der Alpenrhein in den Bodensee fließt und diesen langsam, aber unerbittlich mit Kies und Sand aus dem Hochgebirge zuschüttet. Der Rhein ist dort kanalisiert und die Deiche führen mehrere Kilometer in den Bodensee hinein. So werden die Ortschaften im Rheindelta vor Überschwemmungen geschützt. Links und rechts der beiden Rheindämme wimmelt es von Enten, Gänsen und Sägern. Also waren wir da auch. Es war kalt und feucht und trüb und ich fror, so mitten im Gebirge. Meine Freundin spürte davon nichts, sie jubelte und war ganz erhitzt vor Freude, weil sie gleich einen seltenen Zwergsäger entdeckt hatte.
Hinter uns standen eine Frau und ein Mann aus der Schweiz mit ihren Ferngläsern und suchten ebenfalls die Lagune ab, die neben dem Rheindamm gebildet wurde. Die Frau und meine Freundin verstanden sich sofort: Sie war ebenfalls seit einiger Zeit Birderin und führte Buch über ihre Sichtungen. Ihr Mann und ich verstanden uns ebenfalls sofort: Er war ebenfalls seit einiger Zeit die Person, die seiner Frau beim Bird Watching hinterhertrabte und hin und wieder ein gefiedertes Etwas entdecken kann, bevor seine Frau es wahrnimmt.
Wir waren also Paradebeispiel für die kulturelle Ähnlichkeit deutscher und schweizerischer Paare. Und wir bestätigten alle geschlechtsspezifischen Vorurteile: Während die beiden Frauen sofort einen tollen Draht zueinander hatten, mitten im Bodensee ein luftiges und federndes Thema fanden und sich angeregt über ihre bisherigen gefiederten Bekanntschaften an den unterschiedlichsten Orten austauschten, brummten wir Männer uns gegenseitig verständnisvoll kopfschüttelnd zu und starrten ins Leere.
Er fror ebenfalls. Seine Frau nicht – sie kramte aus ihrem Rucksack Bestimmungsbücher hervor, schrieb mit einem Bleistift in ein Sichtungsbuch, begutachtete die Fotos meiner ebenfalls völlig kälteresistenten Freundin und erzählte von Prachttauchern am Westufer und Zwergschwänen auf dem Untersee. Das Tinder der Naturfreunde.
Wir sind da natürlich hingefahren und haben die Kostbarkeiten gesucht. Beziehungsweise: Ich bin gefahren und im Auto sitzen geblieben, meine Freundin hat das Federvieh gesucht. Man tut ja alles für eine harmonische Beziehung, darf sich aber auch nicht erkälten. Wer niest, scheucht die Vögel auf. Und das ist weder gut für deren Winter-Gesundheit, an der meiner Freundin sehr gelegen ist, noch gut für scharfe Bestimmungsbilder, an denen der Birder-Community sehr gelegen ist. Also tue ich, was ich am besten kann: Ich schalte die Sitzheizung auf Stufe drei und sehe aus sicherer Entfernung meiner Freundin beim Bird Watching zu. Kein Vogel wird von einem plötzlichen lauten Männerniesen aufgeschreckt, und die Sitzheizung amortisiert sich. Win-Win…