Samstag hab ich überlegt, was ich für dieses fröhliche Challenge-Blog schreiben könnte. Im Parkhaus eines Supermarkts war das, Adventssamstag, alle sind sichtlich entspannt und gönnen dem Vordermann selbstverständlich den letzten freien Parkplatz, klar.
Vor mir versuchte jemand mit seinem BMW um die etwas enge Kurve zu fahren, die war dann doch zu eng, also Rückwärtsgang rein und mir fast vor die Motorhaube gefahren. In Gedanken woanders und von dieser vorweihnachtlichen Entspanntheit, die man als Junge vom Land halt hat, denke ich: Naaaa, da fahre ich doch mal langsam einen Meter oder zwei zurück. Weit genug jedenfalls für den BMW-Fahrer mit seinem etwas zu pummeligen Auto, dass einfach nicht um die Kurv….- da reisst der Beifahrer die Tür auf, ein Glatzkopf, Typ Schiffschaukelbremser, und schaut mich mit einem jähzornigen, aggressiven, Ich-hau-Dir-sofort-auf-die-Fresse-Blick an, als hätte ich gerade seine Kinder entführt. Fuchtelt mit den Armen, warum ich den unschuldigen bayerischen Kleinwagen blockiere, und wenn ich nicht sofort… Da fällt der glatzköpfige Grobian zu meinem Glück zurück in seinen Recaro-Sessel. Sein Fahrer hatte wohl gerade das Gaspedal gefunden zwischen all den vielen Weihnachtseinkäufen. Etwas rumpelig fährt er seinen fetten SUV und seinen specknackigen Zuhälter doch noch um die Kurve.
Und ich sitze da und bin angefasst. Verstört ob der Situation. Eingeschüchtert vom Doppelte-Monatsration-Testosteron-auf-einmal-Versuchs-Monstrum (das Uniklinikum hat ja immer was zu testen) und seiner völlig übertrieben aggressiven Aktion. Verstört von der subjektiven Wahrnehmung, dass der ungebremste Jähzorn und der rücksichtlose Egotrip wohl immer akzeptierter wird unter den Menschen. Und dass mich das aufregt. Und ich aufbrausende Glatzköpfe eh für eine Sackgasse der Evolution halte (obwohl die sich leider überdurchschnittlich häufig vermehren. Man fragt sich, mit welchen Frauen)…
Also wollte ich über den Jähzorn schreiben und warum solche Menschen viel zu oft mit ihrer Einschüchterungstaktik gewinnen und dass das doch nicht gehe und wir uns doch alle lieb haben sollten und so. Und dass ich selber doch nie zornig würde und wenn doch, dann hätte ich freilich auch allen Grund dazu, und überhaupt: Die Welt ist schlecht.
Ich denke über dieses Posting nach, während ich nach Hause fahre, und bestärke mich selbst von Ampel zu Ampel, dass ich doch wohl ein ganz ausgeglichenes Kerlchen sei, harmlos und friedlich, was mein üppiger Haarwuchs ja sichtbar beweise. Komme zu Hause an und finde einen Parkplatz wie immer in fußläufiger Entfernung vom Haus – Santiago de Compostela ist ja auch gut zu Fuß erreichbar. Lade gemütlich den Kofferraum aus, trage die Tüten zur Haustür, öffne noch schnell den Briefkasten – und mein Blut wallt sich sofort, muss sich wallen, denn wieder einmal hat einer dieser unterbezahlten und kurzsichtigen Briefträger (ich verzichte heute konsequent aufs Gendern, Verzeihung) einen meiner Briefe bei meiner Nachbarin eingeworfen. Diese ist leider stark sehbehindert und öffnet jeden Brief in der freudigen Gewissheit, eine üppige Gehaltsabrechnung erhalten zu haben für einen Job, für den sie als Rentnerin nicht mal hingehen musste. Nette Menschen müssen das sein, die ihr einfach so Geld überweisen wollen. Zorn steigt auf.
Meine Nachbarin kennt meine komplette finanzielle Situation. Sie weiß, was meine Krankenkasse für den letzten Eckzahn bezahlt hat und welche Aktienfonds in der letzten Zeit ärgerlicherweise gehörig an Wert verloren haben. Da sie Briefe leider mit der Lupe lesen muss, weiß sie sogar mehr über das Kleingedruckte meiner Verträge als ich. Sie kann selbstverständlich nichts dafür – die Briefträger der Deutschen Post sind zu unterbezahlt, zu gestresst, zu überlastet und einfach zu blöd (auch das soll es ja laut Gaußscher Normalverteilung hie und da geben), die korrekt an mich adressierten Briefe in den korrekt mit meinem Namen versehenen Briefschlitz zu stecken. Ich habe ein großes Schild an meinem Briefkasten angebracht, das man noch von meinem sehr fußläufig entfernten Parkplatz wunderbar lesen kann:
Post für Harald Ille bitte nur in diesen Briefkasten stecken
Ich zitiere hier mein eigenes Briefkastenschild in der Hoffnung, es erreicht die Richtigen.
Es hilft nichts. Werbung landet korrekt bei mir, hochgeheime und zutiefst persönliche Informationen bei meiner Nachbarin. Teile meiner Korrespondenz werden aufgrund des strengen Postgeheimnisses von anderen geöffnet und gelesen – auch wenn es sich, besonders bei Kontoauszügen, manchmal auch um ausgesprochene Trauerbriefe handelt.
Ich habe mich bei meiner Postfiliale über die Verletzung meines Briefgeheimnisses beschwert. Beziehungsweise beschweren wollen. „Ja“, haben die freundlichen Postbeamtinnen gesagt, „da müssen sie eine Telefonnummer in Bonn anrufen. Die finden sie im Internet!“
In Bonn anrufen. Bin ich Kissinger, oder was? Nein, ich habe erstmal an das Gute im heimischen Kurpfälzer Briefträger geglaubt und an seine partielle Lernfähigkeit. Dass er das Schild lesen und verstehen werde und bei ihm dann der Groschen falle – auch wenn es länger dauert. Dass er sich seiner umfangreichen Briefträger-Ausbildung erinnert und an Lektion 4.2: Adresse lesen. Dabei rekapitulieren, was der Briefträgerausbildungsleiter immer wieder gebetsmühlenartig wiederholen musste: Den Namen auf dem Brief mit dem Namen auf dem Briefkasten genau abgleichen. Bei hinreichend starker Ähnlichkeit beider Buchstabenfolgen sich an vorangegangene Zustellversuche erinnern: Hat sich der korpulente blonde Herr, der wie wirr auf den Zusteller einredete, er sei der Empfänger seiner Briefe, damals ausweisen können? Glichen sich auch damals die Buchstabenfolgen auf dem amtlichen Ausweisdokument und dem Briefkasten erstaunlicherweise wie ein Ei dem anderen? Könnte es sei, dass in der Urban Legend von der korrekten Briefzustellung tatsächlich ein Fünkchen Wahrheit stecken könnte? Dass es Regionen gäbe, wo tatsächlich Briefe als erstes von den eigentlichen Empfängern gelesen werden können?
Ich bin jetzt erstmal beruflich umgezogen. 250 Kilometer weiter in ein anderes Bundesland. Wo mich niemand kennt und ich Vorsatz also ausschließen kann. Ich lass mir die Post jetzt dahin schicken, ätsch!
Schön sieht der neue Briefkasten aus. Unberührt.
Übernächsten Monat lasse ich mir vom Vermieter die passenden Briefkastenschlüssel geben.