Ich bin knapp 40 Jahr alt. Seit knapp zwei Jahren habe ich gar keine Großeltern mehr. Sie haben sich nach und nach verabschiedet. Kerbe für Kerbe hat ihr Tod Einschnitte in das Holz meiner Kindheit geschlagen.
Ich wurde Vater, sie wurden Urgroßeltern. Sie gingen und damit für mich eine ganze Generation. Nun sind meine Eltern die Alten und somit, falls alles entsprechend der gesellschaftlichen Norm verläuft, die nächsten.

Auch ich gehöre nun nicht mehr zu den Jungen. Ich gehöre nun, aus der Sicht meiner Kinder, zu den Alten. Damit kann man sich erstmal arrangieren müssen.

Der Schwiegervaters eines Freundes liegt gerade im Sterben. Er ist über 80, er ist krank und es wäre eine Erlösung für ihn sterben zu dürfen – so würde es zumindest ein Außenstehender bewerten, vielleicht.
Der alte Mann ist aber auch ein Papa. Und einen Papa haben wir nur einmal. Ein Elternteil ist nicht ersetzbar und somit steht am Krankenhausbett nicht nur eine erwachsene Frau, die den Krankenhausaufenthalt ihres Vaters koordiniert, sondern auch ein kleines Mädchen, das ihren Papa verabschieden muss und Angst hat.

Je älter wir werden, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit Abschied nehmen zu müssen. Meine Generation gehört zu der, die in der Menschheitsgeschichte das höchste Maß an formaler Bildung genießen durfte. Simultan dazu sinkt unsere Erfahrung im Umgang mit dem Tod. Generationen leben nicht mehr automatisch unter einem Dach, gestorben wird nicht mehr zuhause – der Tod ist nichts Alltägliches mehr.
Bei aller formalen Bildung werden wir immer mehr zu Abschieds-Legasthenikern. Der Umgang mit dem Sterben, und über Generationen eingeübte und helfende Rituale, werden uns immer fremder.

Sterben unsere Großeltern, werden wir nie wieder „Oma“ und „Opa“ zu jemandem sagen können, sterben unsere Eltern werden wir niemals mehr jemanden „Mama“ oder „Papa“ nennen können. Somit nehmen wir nicht nur Abschied von Menschen, sondern auch von Lebensabschnitten – unseren ureigenen Lebensabschnitten, unwiederbringlich.

Das tut weh, das ist schlimme. Dennoch ist es keine Katastrophe, es ist der Lauf der Dinge.

Wie können wir Abschied nehmen lernen?

Menschen, die in Pflegeheimen und Krankenhäusern arbeiten kennen das:
Frau Müller-Meier-Schulze, 97 Jahre alt, seit zwei Jahren bettlägerig ist am Ende ihres Lebens angekommen. Sie ist schwach, krank und es gibt nichts mehr zu tun außer ihr das Lebensende zu angenehm wie möglich zu gestalten.
Ihre beiden Töchter sind entsetzt. Da muss es doch noch etwas geben das man machen kann! Wozu immerhin ist die Medizin denn heute so weit wie sie es ist. Mutter darf einfach nicht sterben. Künstliche Ernährung, ja klar! Alle anderen Maßnahmen, ja klar! Vielleicht wird´s ja noch wieder was. Mutter war doch immer eine so starke Frau.
So darf Frau Müller-Meier-Schulze nicht sterben, weil ihre Angehörigen das nicht verkraften möchten und die Medizin muss Steigbügelhalter für menschenunwürdiges Verhalten sein.

Was läuft schief?
Wir haben verlernt Abschied zu nehmen. Und der beginnt viel frühe als der eigentliche Sterbeprozess. Er beginnt mit der Akzeptanz des Alterungsprozesses. Niemand ist heute mehr alt, man ist „silver ager“ oder „in den besten Jahren“. „60 ist das neue 40“, „80 das neue 20“. Alles nicht falsch.
Wer erinnert sich noch an die 70-jährigen seiner eigenen Kindheit? Diese Menschen waren wirklich alt. Sie sahen alt aus, verhielten sich alt und fühlten sich wahrscheinlich auch so.
Wer heute 70 ist, sieht oft nicht aus wie die Alten unserer Kindheit. Sie sind agil, engagieren sich ehrenamtlich, kümmern sich um die Enkel, treiben Sport und fahren mit dem Camper in den Abenteuerurlaub. Dies sollte uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Menschen in 10, 15 oder 20 Jahren wirklich alt sein werden und dass viele dieses Alter vielleicht gar nicht erreichen werden.
Wer seinem Umfeld zugesteht altern zu dürfen tut sich und allen um sich herum etwas gutes.

Wir haben heute oft keine Angst vor dem Sterben oder dem Tod unserer alten Angehörigen, sondern vor dem Alleinesein danach. Das ist nachvollziehbar, menschlich und in Ordnung. Es ist aber auch egoistisch, denn wir denken dabei mehr an uns als an den Sterbenden.

Wer Abschiednehmen aber als Prozess ansieht, tut sich etwas Gutes. Wer Abschied nicht negiert, sondern annimmt und gestaltet entwickelt Stärke und kann nicht überrumpelt werden wenn das Unausweichliche eintritt.

Das macht es nicht leichter, schöner oder besser. Aber annehmbarer und normaler. Und manchmal ist Normalität das Tröstlichste überhaupt.



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