Da sitzt sie in etwa zehn Metern Höhe zwischen zwei schlecht gespannten Drahtseilen. Sie weint, hält sich krampfhaft fest, sagt leise „ich kann nicht mehr“.

Weniger Minuten vorher konnte ich sie noch ganz nah vor mir stehen sehen. Sie ist vielleicht zwanzig Jahre alt, vielleicht etwas jünger oder älter. Ihre Arme sind komplett von vernarbten Schnittwunden gezeichnet. Für ihr junges Alter hat sie wahrscheinlich schon viel erlebt, wahrscheinlich geht es ihr oft nicht gut.

„Ich habe keine Höhenangst, aber Fallangst…“ hatte sie unvermittelt zu mir gesagt, ohne dass wir uns kennen würden oder jemals zuvor miteinander gesprochen hätten. Ein Satz der mich nachdenklich werden ließ. Ich reiße mich auch nicht um große Höhen, würde aber nie von mir behaupten Höhenangst zu haben. Fallangst, dieses Wort das ich soeben zum ersten Mal gehört hatte, beschrieb es viel besser. „Danke, fremde junge Frau vor mir“, denke ich mir und kletterte hinter ihr her.

Es geht für sie nur langsam voran. Ihre Freundin klettert vor ihr, ist viel schneller und der Kontakt zwischen den beiden bricht ab. Viel zu sagen haben sie sich anscheinend eh nicht. Ich bin an sie gefesselt. Ihr Geschwindigkeit bedingt meine, denn durch die Sicherungstechnik hier ist ein Überholen unmöglich. Das macht es sicherer, idiotensicher, aber auch unflexibel.

„Eigentlich bin ich ja bei der Feuerwehr, da darf man keine Angst haben. Mist, dass ich welche habe.“, sagt sie, erneut ungefragt zu mir und wendet sich mir zu. Das ist nicht kokettiert. Sie empfindet gerade echte Angst, es geht ihr nicht gut.
„Angst ist ok“, sage ich. „Wir sind hier etliche Meter über dem Boden, wäre ja seltsam wenn Dein Körper da nicht Alarm schlagen würde. Ich habe auch leichte Angst.“

Sie klettert weiter. Langsam und mühevoll, allzu sportlich wirkt sie nicht und hier oben, bei dieser Hitze, bedarf es einer ordentlichen Portion Kraft. Obwohl wir erst kurz unterwegs sind wirkt sie platt und müde.

Weiter. Zwei dünne Stahlseile, keine 30 Zentimeter voneinander entfernt. Alle paar Zentimeter durch einen unterarmdicken Steg miteinander verbunden. Das ganze schwankt und wankt und bietet einen fast unbegrenzten Blick in die Tiefe. Sie hat Probleme überhaupt auf diese Hängebrücke des Grauens zu gelangen, es gelingt und sie setzt sich in Bewegung. Nach wenigen Schritten kann sie nicht mehr. „Was soll ich tun?“ Sie fragt ins Nichts hinein. Ich halte mich zurück – kann es ja selber kaum besser und werde hier sicher nicht als Pro auftreten, der anderen zeigt wie es geht.

„Was soll ich tun?“, sie dreht sich zu mir und guckt mich tief an. „Setz Dich hin. Dann kannst Du Stück für Stück vorwärts rutschen, in Deinem Tempo“, antworte ich ihr auf die konkrete Frage.
Sie setzt sich. Macht erstmal nichts, verschnauft. Dann, ganz langsam, bewegt sie sich vorwärts. Es ist eine Mischung aus rutschen und hüpfen. Es wirkt motiviert, es ist kraftlos. Sie kommt voran, nähert sich dem Ziel.
„Ich kann nicht mehr.“ Es wirkt echt, ist nicht diskutabel.
„Können Sie Hilfe rufen?“, sie wendet sich wieder an mich, den Beobachter, der nur etwa fünf Meter von ihr entfernt auf einer sicheren Plattform steht. Zu ihr darf ich nicht, das sind die Regeln.

Weißer Helm, Parcour 5“ brülle ich in den Wald hinein. Das ist der Eingeweihten-Code für „Hilfe“ hier im Kletterwald. Die Weißhelmin kommt promt und ich freue mich insgeheim schon auf eine spektakuläre Höhenrettungsaktion.

Diese gestaltet sich dann so: „Kannst Du ihr helfen?“, ruft die Retterin und schaut von tief unten hinauf zu mir.
„Ich versuche es gerne“, entgegne ich. „Darf ich denn auch auf den Parcour?“
„Klar! Bring sie auf die nächste Plattform.“

Anscheinend traut mir ein echter Weißhelm etwas zu. Fast könnte ich mich geschmeichelt fühlen.
Zum Glück weiß ich ja nun, dass ich keine Höhenangst habe, sondern Fallangst und fallen kann ich aufgrund der Sicherung nicht. Also los. TatüTata, die Höhenrettung naht und die Paw Petrol und Feuerwehrmann Sam… alle in einer Person, Motivation ist alles. Unten stehen meine Kinder und beobachten fasziniert, dass ihr Vater nun anscheinend in den Stand eines Weißhelm-Gehilfen erhoben wurde. Ein zusätzlicher Motivationsfaktor.

Ich stürme los, zumindest fühlt es sich so an und komme schnell an die Stelle an der meine Vorläuferin kauert. „Wie machen wir es?“, fragt sie.
„Du schaffst das, ich helfe Dir.“, antworte ich.
„Beim letzten Mal musste ich genau an dieser Stelle abgeseilt werden“, sagt sie traurig.
„Siehst Du, heute nicht. Heute schaffst Du es rüber und bis zum Ende.“
„Wie denn?“
„Ich packe Dich an Deinem Geschirr und ziehe während Du aufstehst. Auf drei schaffst Du das! 1,2,3.“

Ich halte mich fest, mit aller Kraft und ziehe sie hoch. Sie schafft es aufzustehen und wir gehen die letzten Schritte zur nächsten Plattform.

„Soll ich Dich jetzt abseilen?“, ruft die Weißhelmin von unten hinauf.

Das Mädchen guckt mich fragend an. „Ich glaube Du schaffst es bis zum Ende“, sage ich. Wortlos setzt sie ihren Weg fort und ich empfinde eine große Freude. Ich freue mich für sie.
Sie bewältigt zwei weitere Hindernisse langsam, schimpfend, aber problemlos. Danach spricht sie mich zum ersten Mal nach unserer „Rettungsaktion“ wieder an.

„Dankeschön, obwohl mir das sehr unangenehm ist.“
„Kann ich nachvollziehen. Und wenn ich sagen würde, dass es das nicht braucht, würde es Dir wahrscheinlich nicht weiterhelfen.“

Wir lachen beide.

„Haben Sie auch manchmal Angst?“
„Du kannst „Du“ sagen, ich sage ja auch Du. Ob ich manchmal Angst habe? Klar. Ständig. Zum Beispiel gerade jetzt. Zwar in einem stimulierenden Maße, aber Angst…“
„Du kletterst hier aber so locker durch.“
„Ich bin auch mal mit Pauken und Trompeten aus einem Parcour abgeseilt worden. Ich kenne das!“
„Danke“

Sie klettert weiter. Ich klettere weiter. Irgendwann sind wir fertig. Als wir auf der letzten Plattform stehen, ungesichert und fertig, geben wir uns wortlos die Hand und jeder geht seiner Wege.

Ich habe heute wieder etwas gelernt, gemerkt, verinnerlicht.
Von unten kann es manchmal so aussehen, als ob der Boden die einzige Lösung für jemanden ist, der oben nicht weiterkommt. Heute wäre dieser Boden, die augenscheinliche Rettung, eine Niederlage gewesen. Oben sein, Angst aushalten ist manchmal die langfristigere Lösung. Um Aushalten zu können brauchen wir meist Begleiter. Was müssen die können?
Heute hat es schon gereicht nicht weg zu können und stellvertretend optimistisch zu sein.

An einen fremden Menschen gebunden zu sein war heute eine wertvolle Erfahrung für mich. Außerdem weiß ich jetzt, dass ich Fallangst habe.

Danke, Mädchen vor mir und alles Gute!

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