“Mein Kind hat Angst”. Gefühlt ist dieses Buch von 1991 ein Klassiker der Elternratgeberliteratur. Gefühlt, denn wie die tatsächlichen Verkaufszahlen dieses Werks von Arnd Stein waren, das weiß ich nicht. Gefühlt, denn gefühlt stand dieses Buch in jedem Haushalt meiner Jugend. Auch meine Eltern hatten es im Bestand. Ob sie es jemals gelesen haben, das weiß ich nicht.
Hatte ich als Kind Angst? Ja. Ich erinnere mich da an die “Aidsspritzer” der 90er. Ich war angehender Teenanger und las im STERN, dass es in Hamburg eine Masche sei, Menschen mit einer Spritze voll Blut zu überfallen. Diese Spritze wurde als Waffe verwendet, indem dem zu Überfallenden gesagt wurde, in der Spritze befände sich HIV-positives Blut und dieses werde man nun injizieren. Selbstverständlich nur, wenn der Überfallene nicht sofort sein Geld und seine Wertsachen überreiche.
Krasse Sache.
Noch krasser: Nach dem Konsum dieser Artikels fuhren meine Eltern und ich zum Musicalbesuch in die Hansestadt. Mein Vater durfte sich keine 30 Zentimeter von mir entfernen. In meiner Angst waren die Aidsspritzer allgegenwärtig.
Auch Mortianna, die üble Ziehmutter des Sheriffs von Nottingham in der “Robin Hood”-Verfilmung von 1991, kam mir viele Wochen über die Bettdecke entgegen.
An Ängste im Alter davor kann ich mich nicht erinnern. Sicher aber waren sie da. Jedes Kind hat Angst.
Auch meine Kinder.
Mittlerweile bin ich Vater und, aus Sicht meiner Kinder, völlig angstlos. Das gehört zur Rollenbeschreibung dazu. Dass ich manchmal, bei abendlichen Läufen im Dunkeln, aus reiner Angst vor dem dunklen Wald sehr stattliche Zeiten laufe: würden sie nicht glauben. Papas sind angstfrei.
Völliger Blödsinn.
Daher ist es mir wichtig meinen Kindern zu erklären und mitzugeben, dass Angst zum Leben dazugehört. Angst ist, so wie jeden andere Gefühl auch, gesund. Sie hilft uns sogar. Sie ist unser Freund. Sie warnt uns nämlich und zeigt, dass gerade etwas nicht so ist wie es sein sollte und dass wir achtsam sein sollten. Angst ist unsere natürliche Alarmanlage.
Auch meine Kinder haben Angst und ich verbringe immer wieder Zeit damit zu überlegen, wie ich sie dabei begleiten kann Angst als Teil des Lebens zu respektieren. Ohne dass sie zu viel Raum einnimmt.
Gleichzeitig weigere ich mich den inneren Hubschrauber zu starten und ein Helikopter-Elternteil zu werden.
Wer vom Schlechtesten ausgeht impft Angst ein. Wer aus jedem Baum eine potenzielle Todesfalle konstruiert schürt Sorgen und ein unpassendes Weltbild. Natürlich ist es klug das Kind etwa gegenüber den Gefahren im Straßenverkehr zu sensibilisieren.
Ich erinnere mich an eine Zeit als K1 davon überzeugt war auch das größte Auto einfach wegschubsen zu können. Dadurch erschien ihm jede Straßenüberquerung als völlig ungefährlich. Er bot mir sogar an, er werde mich beschützen.
Dieser Zahn musste gezogen werden. Heute weiß er, dass jedes Auto, egal wie groß oder klein, immer stärker ist als der stärkste Mensch. Er schützt sich und ist aufmerksam. Jedoch ohne dadurch Angst vor dem Straßenverkehr entwickelt zu haben.
Alles greifbar. Aber was ist mit den nicht so fassbaren Ängsten? Den Ängsten vor Dunkelheit, vor fantasieren Gestalten und Monstern. Was schützt vor Beklemmungen, die durch unrealistische Einschätzungen von realen Situationen entstehen?
Auch diese Ängste sind normal. Sie sind da und sie bleiben – ein Leben lang. Ein völlig angstfreier Mensch würde wohl nicht allzu lange leben.
Gleichzeitig können wir unsere Kinder stark machen und sie dabei unterstützen ihre Angst auf einem gesunden Level zu halten.
Ich greife dabei oft auf das “Ich bin da”-Prinzip zurück. Erfunden und entwickelt von mir.
Ich zeige meinen Kindern dass ich da bin, sie unterstütze und helfe – bei Bedarf.
Sie dürfen ihre Schritte alleine machen, selbstständig und frei. Dazu gehört auch, sie manchmal vehement zu bestärken etwas zu tun von dem ich weiß, dass nichts passieren kann.
Manchmal sind das so banal erscheinende Dinge wie nachts alleine im Dunkeln zum Klo zu gehen. Ich bin da, ich ermutige – den Weg gehen sie alleine… nichts kann passieren und am Ende steht ein Erfolgserlebnis.
Couéismus
Ich oute mich an dieser Stelle ganz offen als Couéist, als Freund der Autosuggestion. Warum? Weil sie funktioniert. Was ich mir selber erzähle, das stimmt.
Nichts anderes passiert ja, wenn das Kind, auf dem Weg zum Lokus, sich selber einredet in enormer Gefahr zu stecken und gleich von einem Schatten verspeist zu werden – es redet sich diese Gedanken ein bzw. verstärkt sie.
Die einfachste Formel dafür ist: “Ich schaffe das!” Sie wirkt und lässt sich sehr einfach einüben.
Ich nutze diesen einfachen Satz oft in Situationen, in denen ich weiß, dass es keinen Zweifel geben kann, dass eines meiner Kinder die nun anstehende Aufgabe bewältigen wird. Manchmal ist das nur das Hüpfen von der Schaukel auf dem Spielplatz oder sonst eine Kleinigkeit. Dadurch verknüpfen Kinder den Satz “Ich schaffe das” mit der beobachtbaren Tatsache etwas wirklich zu schaffen und dem daraus resultierenden Gefühl der Stärke.
Diese Stärke können sie dann auch in Situationen abrufen, in denen die Gefahr augenscheinlich größer ist. Die Angst verschwindet dadurch nicht, aber sie haben ihr etwas entgegenzusetzen und sind nicht hilflos.
Begleitetes Angsthaben ist wahrscheinlich die wohligste Erfahrung, die ein Kind sammeln kann. Denn es bedeutet auch, dass die eigenen Gefühle wertgeschätzt und ernst genommen werden.
Ja, auch mir geht es manchmal auf die Nerven mit nicht nachvollziehbaren Ängsten meiner Kinder konfrontiert zu werden. Vor allem, wenn sie nicht in meinen Ablauf passen. Dann nervt es.
Aber: die Ängste sind da. Jetzt. Und sie sind nicht aufschiebbar.
Mir geht es dann nicht um “DutschiDutschi” und Gefühlsduselei, sondern darum meine Kinder zu unterstützen, dabei zu bleiben, dabei aber keine falsche Fährte zu legen. Es geht nicht darum vor der Angst zu kapitulieren und es geht auch nicht darum so zu tun als sei sie nicht da. Es geht um die Frage: “Was brauchst Du jetzt um mit der Angst umgehen zu können?”
Die Antwort ist nicht immer ein Spaß. Oft fordert sie etwas von mir, schränkt mich ein.
Auch das kann nerven. Da mache ich mir nichts vor. Und ich reagiere nicht in 100% der Situationen adäquat. Ich versuche es aber in möglichst vielen zu schaffen.
Wenn eines meiner Kind aufwacht und mir erzählt, dass da immer etwas “Schreckliches” sei wenn es die Augen schließe, dann ist mein Impuls – nachts um dreiz – zu sagen: “Nee, da ist nichts, das bildest Du Dir ein. Schlaf jetzt. Sei still. Lass mich in Ruhe. Ich brauche meinen Schönheitsschlaf!”
Dahinter steckt meine Müdigkeit und meine Lust meinen angstfreien Schlaf fortzusetzen.
Ich kann die Chance aber auch nutzen und mein Kind begleiten.
Wie ich das mache?
Erstmal frage ich nach. Mich interessiert, wie “das Schreckliche” denn genau aussieht. Manchmal gibt es gar keine konkrete optische Beschreibung. Manchmal schon.
Dann habe ich, gemeinsam mit meinen Kindern, ein Spiel entwickelt. Wir verkleiden das Monster. Indem ich sage: “Dann setz dem “Schrecklichen” doch mal eine lustige Mütze auf.” oder “Dann lass das “Schreckliche” doch mal stolpern und hinfallen!” gelingt es meinen Kindern oft aus ihrer Hilflosigkeit herauszufinden. Sie können aktiv werden, oft sogar lachen.
Der angst-fördernde Gedanke wird nicht weggewischt oder ausgelacht. Er wird wertgeschätzt und wir nehmen uns das Recht heraus an ihm herumzumanipulieren. Das klappt oft gut und führt zu direktem Einschlafen.
Dann gibt es da noch die weniger greifbaren Monster. Die, die keine optische Form annehmen wollen. Hier handelt es sich um angstfördernde Gefühle, die sich schlecht greifen lassen und an denen man nicht einfach herummanipulieren kann.
Diese Monster haben selber Angst. Sie hassen das Gefühl der Sicherheit und der Geborgenheit. Dann verschwinden sie einfach.
Auch hier gehe ich in keinen Konflikt mit meinem Kind und den gerade anwesenden Monstern. Sie dürfen da sein. In der kindlichen Wahrnehmung sind sie das ja auch – ganz real. Stattdessen erzähle ich, mit ruhiger Stimme, was gerade alles gut ist. Ich formuliere dabei ganz offensichtlich “Du bist sicher, ich bin da, Dir kann nichts passieren.” Und dann biete ich einfach an mal zu spüren wie schön sich die Matratze anfühlt und wie weich die Decke ist. Ich betone, dass nichts passieren kann und sage, dass die schlechten Gedanken bleiben dürfen. Sie dürfen sich aber auch verabschieden. Zack… Kind schläft.
Angstfreiheit gibt es nicht. Das sollte nie das Ziel sein. Denn es wäre ein unerreichbares.
Das Ziel ist ein gesunder Umgang mit Angst. Die können wir unseren Kindern beibringen und dabei noch selber sehr viel über uns lernen.
*Ich bezieht sich hier nicht auf mich, den Autoren. Mit “Ich” ist jeder gemeint, der/die Kinder oder andere Menschen begleitet und auf diese Weise zum Angstforscher oder zur Angstforscherin wird.