20 Uhr. Die Kinder (7 und 5 Jahre) sind im Bett. Plummps. Ich lande wie ein abgestürztes Flugzeug auf der Couch. Die Küche müsste noch aufgeräumt- und der Esstisch für den nächsten Tag präpariert werden. Mir egal. Netflix… ich komme und statt des Esstisches bereite ich mich für den morgigen Tag vor. Mit Ruhe und Entspannung.
Als Papa treibe ich mich in zahlreichen Eltern-WhatsApp-Gruppen rum und habe täglichen Kontakt zu anderen Eltern. Was ich da zur Zeit beobachte lässt mich oftmals ratlos und nachdenklich zurück. Es herrscht eine ziemliche Unentspanntheit. Und das nicht, weil Covid-19 uns alle etwas unentspannter werden lässt, sondern weil viele Eltern eine Normalität herbeisehnen, die es zur Zeit nicht geben kann. Dafür gibt es eine andere Normalität. Mit der kommen viele Kinder anscheinend sehr gut zurecht. Viele Eltern beobachtbar nicht.
Da wird in der WhatsApp-Gruppe über viele Zeilen diskutiert, ob die Kinder der Klasse 2 denn nun Hausaufgaben aufhaben, oder nicht. Der eine hat zuhause dieses erzählt, die andere jenes. Ist denn nun Sportunterricht? Oder wegen Corona nun doch nicht!? Macht die Lehrerin nun alles gut oder alles schlecht. Alles Dinge, die man wohlwollend wahlweise ignorieren oder in einem kurzen Dialog klären könnte. Stattdessen wird Fass um Fass aufgemacht und genussvoll ausgeschöpft – in ermüdenden Dialogen, die zu nichts führen. Diskussionen über Diskussionen und alle lassen eines erahnen: der heimische Dialog mit den Kindern scheint nicht stattzufinden oder zumindest nicht zu funktionieren. Die Intentionen dahinter sind wahrscheinlich edel und positiv. Mama und Papa wollen dem Kind etwas gutes. Sie wollen, dass das Kind keine Nachteile hat, am Ball bleibt und den Schulstoff gut mitbekommt. Technisch alles richtig. Emotional oftmals beängstigend distanziert und so gar nicht Kind-orientiert.
Nein, auch das was mein Kind nach der Schule daheim erzählt, stimmt nicht immer. Manchmal hat es Dinge schlicht nicht verstanden, manches nicht mitbekommen. Was er sagt glaube ich ihm aber. Manchmal mit dem Hinweis, dass es sich im gegenteiligen Falle selber mit der Lehrerin auseinandersetzen müsse.
Und manchmal geht es einfach darum, nach einem anstrengenden Tag noch etwas Ruhe und Entspannung zu tanken. Manchmal ist das wichtiger als noch zwei Aufgaben mehr im roten, blauen oder gelben Heft mühevoll zu lösen.
Ja, mir geht es auch manchmal auf die Nerven, dass die Kinder öfters nicht in Schule und Kindergarten gehen können. Ja, mich nervt es kolossal, dass man eigentlich keinen Planungsspielraum hat, der 12 Stunden überschreitet.
Dafür können wir neue Dinge erfahren.
Beispiel?
In diesem Jahr wird es am Heiligen Abend keinen (Kinder-)Gottesdienst geben. Eine liebgewonnene Tradition, die die Kinder schon ihr gesamtes Leben begleitet. Deshalb werde ich in diesem Jahr zum Prediger. Auf Wunsch der Kinder plane ich seit gestern einen privaten Gottesdienst in unserem Garten. Ob das was wird? Keine Ahnung, aber toll es machen zu dürfen.
Wir alle stecken gerade in einer Situation, die wir nicht gelernt haben, über die wir nichts in Büchern nachschlagen können. Das macht es herausfordernder als es sowieso schon ist.
Die gute Nachricht: für Kinder ist das egal, denn es ist ihre Normalität. Es ist halt gerade so. Es hat Vor- und Nachteile. So wie alles.
Ich habe noch kein Kind über die Corona-Situation motzen hören. Obwohl… doch! Und zwar in den Worten ihrer Eltern. Wiederkäuend, was die Eltern ihnen offensichtlich wieder und wieder vorbeten. Das ist traurig, denn wir können von unseren Kindern gerade viel lernen. Nämlich, dass es, solange alle gesund und munter sind, eigentlich alles gar nicht so tragisch ist. Kinder sind kindisch. Und das fehlt vielen Erwachsenen gerade. Zusätzlich zum nötigen ernst.
Was können wir tun, um die nächsten Wochen und Monate gut zu durchlaufen?
- Lasst Fünfe gerade sein
Was wir gerade alle gemeinsam leisten ist enorm. Das gilt auch für unsere Kinder. Sie haben seit April ständig neue Situationen adaptiert. Sie haben unsere Unsicherheiten gespürt. Sie haben großes geleistet. Sie verzichten darauf Freundinnen und Freunde zu treffen. Sie können ihren Hobbies nicht mehr nachgehen und knüpfen keine neuen Verbindungen mehr in Vereinen. Sie gehen zur Schule und wieder heim, und wieder hin und wieder her. Deshalb ist es wichtig sie spüren zu lassen, dass Dinge auch mal locker laufen können, Unlocker ist es schon. Maske hier, Abstand da. Da können im heimischen Umfeld einfach mal Regeln gelockert werden.
2. Schafft echte Freizeit
Erinnert Ihr Euch an den ersten Absatz dieses Textes? Als Erwachsene nehmen wir uns was wir brauchen. Wir bestimmen über unsere Anspannung und Entspannung – zumindest dann, wenn wir ein gesundes Verhältnis zu uns selber haben. Wenn wir abends platt sind lesen wir nicht noch etwas Hegel oder spielen ein forderndes Gesellschaftsspiel. Wir gucken einen stumpfen Film oder lesen ein dümmliches Buch.
Von unseren Kindern erwarten wir, dass sie Entspannung in der Beschäftigung mit sich selber finden. Dass sie noch etwas lesen, obwohl sie das anstrengt oder ein Spiel spielen. Wir zwingen sie sich durch eine Aktivität zu entspannen. Selber würden wir das nie schaffen. Die Kinder sollen es.
Nur echte Freizeit kann den Geist entspannen. Was das ist, ist so individuell wie die Kinder selbst. Wir sollten lernen sie das selber bestimmen zu lassen. Heute mehr denn je. Und wenn sie einfach nur mal Fernseh schauen wollen? Sollen sie es doch. Wir handhaben es ja auch nicht anders.
3. Fragt Eure Kinder was sie brauchen
Wer weiß am besten was gut für Dich ist? Genau. Du!
Kindern sprechen wir diese Fähigkeit oftmals ab. Ganz falsch ist das ja nicht. Ein Grundschulkind kann sein Leben nur schwer gänzlich alleine in die Hand nehmen. Auch ein Teeny nicht. Aber ganz doof sind sie auch nicht. Kinder wissen was sie brauchen. Fragt sie danach und nehmt ihr Wünsche ernst. Auch wenn sie sich gerade nicht mit Euren decken!
4. Seid da
Kinder brauchen keine dauerhafte Aufmerksamkeit. Sie brauchen Zeit für sich, denn so entfalten sie Ideen und Kreativität.
Was sie brauchen ist echte Aufmerksamkeit. Mir fällt das oft auch sehr schwer. Hier ein Anruf, da mal eben aufs Handy gucken. Man verbringt Stunden miteinander, ohne dass man wirklich etwas miteinander macht und irgendwann zetern die Kinder, obwohl man doch physisch die ganze Zeit anwesend ist. Was wollen sie denn noch?!?
Lasst Euch auf die Kinder ein und spielt ganz explizit mit ihnen ihre Spiele. Lest vor oder schaut gemeinsam fern, ohne dabei selber aufs Handy zu starren. Redet miteinander und gebt den Kindern das Gefühl jetzt gerade nur für sie da zu sein. Das bewirkt Wunder. Wunder? Ja, denn irgendwann haben die Kinder genug von Euch und schenken Euch Zeit für Euch selbst.
5. Seid nicht da
Wenn alle immer zuhause hocken, und das machen viele von uns gerade sehr oft, fällt das Abgrenzen schwer. In alle Richtungen. Man ist sich gegenseitig ausgeliefert und selbst die größte Hütte wird zum Stall, wenn man nur genug Zeit darin verbringen muss.
Daher ist es wichtig Zeiträume zu schaffen in denen man nicht da ist, obwohl man eigentlich da ist. Kinder verstehen das und können das. Je älter, desto länger.
Dazu gehört eine gesunde Portion Offenheit und Mut zur Abgrenzung.
„Ich brauche jetzt mal etwas Zeit für mich. Ich bin da und helfe euch, wenn wirklich etwas ist. Aber bis … Uhr nehme ich mir jetzt mal Zeit für mich/Zeit, um … zu erledigen. Was sollten wir vorher noch machen oder besprechen?“
Das klappt. Ich habe es vielfach versucht und es funktioniert. Natürlich, die Kinder kommen kurz mal vorbei und haben ein Anliegen, sind dann aber direkt wieder weg.
Kleiner Tipp: Nach einer solchen Phase sollte eine Phase aus Kategorie 4. („Seid da“) folgen.
6. Macht was Spaß macht
Aufmerksame LeserInnen dieses Blogs wissen: ich verabscheue Gesellschaftsspiele. Sie machen mir keinen Spaß. Selbst betrunken nicht. Sie sind sinnlos, denn ich brauche keinen Katalysator um gesellig zu sein. Ich kann das auch so.
Deshalb vermeide ich es auch mit meinen Kindern Brettspiele zu spielen. Sie merken, dass ich nicht wirklich dabei bin und das mir die Spieldynamik und das Ergebnis eigentlich egal sind.
Dafür liebe ich es mich draußen aufzuhalten, Wälder oder Städte zu erforschen, auf den Sportplatz zu gehen und zu rennen, Bücher zu lesen oder Hörspiele gemeinsam zu hören. Da gehe ich auf und bin dabei. Das macht mir Spaß. Eine Form von Spaß die sich überträgt.
Wenn Spaß nicht verordnet ist, dann ist er tatsächlicher Spaß. Spaß, der als Freude und Wohltat empfunden wird. Findet heraus was das ist und macht es. Egal wie unorthodox es auf den ersten Blick scheinen mag. Alles andere ist nur öder Zeitvertreib.
7. Entdeckt neue Freiheiten
Vieles ist zur Zeit eingeschränkt. Vieles nicht. Die Innenstädte verwandelt sich gerade in große Spielplätze. Wo sich jetzt eigentlich Weihnachtsmarktbesucher drängen- und Weihnachtsshopper shoppen würden, sind nun große freie Flächen. Geht dorthin, rennt, fahrt Fahrrad oder macht sonstwas.
Wo geht Ihr im Sommer gerne hin? Entdeckt diese Orte jetzt, im Winter. Es gibt keine lästigen Verpflichtungen, die Euch davon abhalten. Es gibt viele Orte, die wir ohne Laub an den Bäumen noch nie gesehen haben. Los geht´s.
8. Seid streng
Sollen wir nun also nur noch machen, was Spaß macht und alle Regeln über Bord werfen? Alles locker. Fünfe gerade sein lassen.
Nein. Seid streng. Aber im zeitgemäßen Rahmen.
Manche Regeln machen gerade keinen Sinn mehr, viele Regeln fallen weg. Die Hausaufgaben müssen nicht mehr vor dem …training fertig sein. Denn dieses Training findet gerade nicht statt. Hier kann es lockerer zugehen.
Dafür braucht es mehr Abgrenzung, weil es die gerade auf „natürlichem Wege“ nicht gibt. An dieser Stelle ist es vielleicht Zeit für neue Regeln. Führt sie ein und setzt sie durch. Kinder mögen Regeln, wenn sie Sinn machen und Sie sie verstehen.
9. Lernt
Nix geht mehr. Vieles ist anders als sonst. Cool!
Beschäftigt Euch (altersgemäß) mit den neuen Themen. Was ist eigentlich ein Virus? Was ist Meinungsfreiheit? Was ein Gesetz? Was ist eine Demo?
Warum gibt es verschiedene Bundesländer? UndUndUnd…
Alles was den Alltag ausmacht ist interessant. So geht es Kindern und so geht es Erwachsenen. Erwachsene befriedigen diese Neugierde durch den Konsum von Zeitungen, Webseiten und sozialen Medien. Kinder haben diese Möglichkeiten nicht. Zum Glück. Aber sie nehmen Themen und aktuelle Idee auf und kriegen sie mit. Hier kann man ansetzen und gemeinsam lernen, ohne dass es sich nach Lernen anfühlt.
10. Vertraut Euren Kindern
Schenkt Euren Kindern den Glauben, dass sie wissen was sie wollen und brauchen. Es heißt nicht, dass sie alles bekommen was sie wollen. Im Gegenteil.
Es bedeutet ihnen zuzuhören und ihre Bedürfnisse zu kennen. Nicht die, die wir glauben zu kennen oder die wir als Erwachsene als sinnvoll erachten. Nein. Es geht um die echten Bedürfnisse und Gefühle der Kinder. Wenn die ihren Platz finden dürfen, werden wir alle ein Stückchen krisensicherer.