Ein Jahr Corona. Happy Birthday, Pandemie. Mögest Du Deinen zweiten Geburtstag nicht erleben.

Ein Jahr ohne schulische Kontinuität für LehrerInnen, SchülerInnen und Eltern. Ein Jahr mit geteilten Klassen, gar keinen Klassen, Masken und ausgefallenen Aktivitäten. Ein Jahr im Muss-Zustand, meist ohne die real existierenden Vorteile des Schullebens wie soziale Kontakte, Ausflüge, Beziehungspflege, Austausch und Reibereien.

In diesem Artikel möchte ich meine Meinung kundtun, nicht ohne jedoch konkrete Lösungsideen im Ansatz zu benennen.
Ein Jahr ist, im Leben eines jungen Menschen, ein prozentual hoher Anteil der bisherigen Gesamtlebenszeit. Je kleiner das Kind, desto größer der Anteil. Daher ist es wichtig nun Weichen zu stellen und dem „neuen Normal“ ein adäquates Konzept entgegenzustellen. Ein Konzept, das nicht weiter so tut, als seien die Wege und Ziele der Vor-Corona-Zeit noch das Maß der Dinge oder überhaupt weiter erreichbar.

Durch die „Systemrelavanz“ meiner Frau und mir war unser K1 im letzten Jahr mehr in der Schule/Notbetreuung als viele anderen Kinder. Seit knapp einem Monat führen wir – im Rahmen unserer Hausarztpraxis – wöchentlich eine sehr große Zahl von Schnelltests an Schulen durch. Dadurch haben wir, neben den privaten Erfahrungen, einen validen Einblick in die Wahrnehmung von zahlreichen Lehrerinnen und Lehrern bezüglich der momentanen Situation erhalten.
Daran soll sich dieser Artikel orientieren. Theoretisch fußen die folgenden Vorschläge er auf den Inhalten der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV), in denen ich ausgebildet- und nebenher tätig bin, sowie auf den Ansätzen der systemischen Psychologie.

Das letzte Jahr an Schulen ist zwar nicht mit einer akuten Gefahrenlage zu vergleichen, stellt aber eine chronische Krise dar. Für solche Situationen gibt es gute, fundierte und wirksame Ansätze. Mit diesem Wissen im Hinterkopf wundert es mich, dass die psycho-sozialen Aspekte der Pandemie an Schulen in keinem Krisenstab, den ich kenne, gezielt bearbeitet werden und personell vertreten sind.

Annährend jede Schule in Deutschland hat einen Krisenplan. Meist in Form einen stiefkindlich behandelten Ordners in irgendeiner Ecke. Darin ist beschrieben, wie man sich etwa im Falle eines Amoklaufes verhalten könnte. Wahrscheinlich kennt diese Inhalte niemand – immerhin existieren sie aber. Für Corona gibt es so etwas nicht.
Lehrerinnen und Lehrer arbeiten aus eigenem Antrieb, oder nicht. Und selbst wenn sie es möchten, haben sie keinen Leitfaden, an dem sie sich – in ihrer verständlichen- und nachvollziehbaren Unwissenheit und Unsicherheit – entlanghangeln könnten.

Daraus entsteht: Dienst wie immer. Lehrplan aufschlagen und gucken, dass möglichst viele Inhalte daraus an den Schüler oder die Schülerin gebracht werden. Niemand möchte hinterher als schlechte Lehrerin oder Lehrer dastehen.

Dabei müsste das wichtigste Fach inzwischen „Corona“ heißen.
„Was ist ein Virus?“, „Was macht er im Körper?“, „Warum werden politischen Entscheidungen so getroffen wie sie getroffen werden?“… und und und. Diese Fragen kann man, entsprechend aufbereitet, mit Kindern jeden Alters besprechen.
Und vor allem müsste Platz entstehen, um das wertzuschätzen, was uns seit einem Jahr beherrscht: die psycho-sozialen Aspekte einer medizinischen Ausnahmesituation. Denn für die meisten von uns ist nicht der Virus an sich die Hauptbelastung, sondern seine Auswirkungen auf uns, auf unsere Umgebung und die Rückkopplung aus beidem.

Es ist Zeit für PSVS – Psychosoziale Versorgung von Schulen. Denn Lehrpläne sind geduldig und letztlich virtuell. Sie können verändert und umgeschrieben werden. Sie sind kein Naturgesetz das unveränderlich ist. Die Reaktionen und langfristigen Probleme, die aus der Pandemie entstehen, sind dagegen nicht veränder- oder revidierbar. Sind sie erstmal da, sind sie da. Deshalb ist jetzt Zeit zu handeln, viel Zeit ist schon verstrichen.

Wie könnte so etwas aussehen?

  • Schulung von Lehrerinnen und Lehrern in den Grundlagen der Supervision. Ziel: Gezielt mit Klassen über die Situation sprechen.
  • Konkrete Räume schaffen, in denen mit SchülerInnen über die Pandemie-Situation gesprochen werden kann.
  • –> Platz für Gefühle und Achtsamkeit, statt Verdrängung und Negierung.*
  • Angebote von echter Unterstützung. Also nur, wenn es auch wirklich passt.
  • Digitale Gesprächsangebote ohne Beschulungsabsichten. 😉 Ziel: ein begleitender Dialog zwischen LehrerInnen und SchülerInnen.
  • Supervisionsangebote für Lehrerinnen und Lehrer und das gesamte weitere Schulpersonal.
  • –> An- und Aussprache von persönlichen Erlebnissen.
  • –> Platz für Gefühle und Achtsamkeit, statt Verdrängung und Negierung.
  • Psychoedukation. Also das Erlernen davon, was in der vorliegenden (Krisen-)Situation an psycho-sozialen Dynamiken und Phänomenen auftreten kann. Reaktionen werden als normal definiert, Ängste genommen.
  • Stressbewältigungsseminare für Lehrerinnen und Lehrer, durch die sie ihren Schülerinnen und Schülern darin anleiten können mit der vorherrschenden Anspannung umzugehen.
  • Stressbewältigungsangebote für Lehrerinnen und Lehrer.

    * Frageideen für solche Runden:
    – Welche Themen sind gerade für Dich wichtig?
    – Was fehlt Dir zur Zeit?
    – Was läuft gerade richtig gut?
    – Was würde Dir jetzt guttun?
    – Welche Fragen hast Du gerade?
    – Was soll in unserer gemeinsam Zeit, hier in der Schule, passieren?
    – Was nicht?

    Lehrer und Lehrerin, Schüler und Schülerinnen sollte mindestens einmal wöchentlich die Möglichkeit haben, über ihren mentalen Status zu sprechen. Als Angebot. Nicht als Pflichttermin. Gleichzeitig sollte die Wichtigkeit und Wertigkeit dieser Termine stets herausgehoben werden.
    So bietet die Pandemie die Chance, junge Menschen dahingehend zu schulen, einen gesunden Umgang mit Ihren Gefühlen und Emotionen zu pflegen.

    Darüber hinaus sollten Schulen zu einem offenen Ort umgestaltet werden, an dem SchülerInnen und Eltern immer einen Ansprechpartner finden. Auch beim Schulschließungen sollte die Schule als ein solcher Ort erhalten bleiben. Etwa durch wöchentliche Treffen im Außenbereich, mit Teilen der Klasse, oder die Möglichkeit den Schulhof als Spielplatz zu nutzen. Dabei sollte es nicht darum gehen allzu viel zu psychologisieren oder alles dauerhaft als „schwere Kost“ darzustellen. Vielmehr geht es darum Präsenz zu zeigen und sich als Ansprechpartner zu präsentieren. Offen, entspannt und ohne größere Hürden. Die Schule als sicherer Ort in krisenhaften Zeiten. Das schafft akute Entlastung und ist eine Investition in das zukünftige Vertrauen von SchülerInnen und Eltern.

    Gerade in Zeiten von Schulschließungen besteht eine große Chance psycho-soziale Probleme abzupuffern, wenn das Schulgelände als Ort der Begegnung erhalten bleibt und von PädagogInnen begleitet wird. Immer unter den Voraussetzungen der aktuell herrschenden Regeln und Verordnungen. Das schafft Vertrauen, Nähe und eine implizite Einladung zum Gespräch – die dann auch angenommen werden wird.

Eine schulpolitische Idee

Wie kann es weitergehen? Absehbar wird das gesamte Schuljahr, bis zu den Sommerferien, unter Coronabedingungen stattfinden – nicht normal, im Sinne von 2019 und den Jahren davor. Und auch nach den Sommerferien, so meine Prognose, wird nicht alles vergessen sein.
Es braucht einen mutigen, cleveren und sinnvollen Ansatz, der die Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt stellt.

Wie kann der aussehen?
Alle oben genannten Maßnahmen und Ideen brauchen vor allem eines: Zeit.
Zeit, die letztlich der mentalen Gesundheit aller Beteiligten nutzt und dazu beiträgt, dass das Virus sich nicht rasant weiterverbreiten kann.

Diese Zeit bietet ein Normschuljahr mit einem standardisiertem Lehrplan nicht. Daher plädiere ich für die Idee jetzt darüber nachzudenken SchülerInnen, LehrerInnen, Eltern, SchulpsychologInnen, SozialarbeiterInnen, … die Zeit zu verschaffen, die die Pandemie eben braucht.

Ich empfinde die Idee eines zusätzlichen Halb- oder Schuljahres für alle Schülerinnen und Schüler als sinnvoll.

Alle Schülerinnen und Schüler, zwischen Klasse 1 und Klasse 10, bleiben einfach ein Jahr länger in der Schule. Auf diese Weise erntet niemand einen Nachteil und es entsteht ein Puffer, um schulische, pädagogische, soziale, psychologische,… Probleme aufzufangen.
Kurzfristig entsteht der Vorteil sich vom Aktionismus verabschieden zu dürfen, die SchülerInnen auf Teufelkommraus zu beschulen. Es entsteht Zeit für ein pandemie-gerechtes Zusammensein und ein pandemie-gerechtes (= verlangsamtes) Lernen.

Lasst uns aufhören so zu tun als müsse alles beim Alten sein. Das ist es nicht. Und es gibt gute Lösungen ein neues, gesundes „Normal“ zu etablieren.

Ja, dieser Text verkürzt vieles. Ich bin mir bewusst, dass die vorgeschlagenen Ideen nicht „mal so eben“ einzuführen und umzusetzen ist. Sie sollen aber Diskussionsgrundlage dienen über den oft bemühten Tellerrand zu schauen und ausgetretene Denkpfade zu verlassen. Wir stehen vor neuen Herausforderungen denen man nicht mit alten Lösungen begegnen kann.

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