Ich betrete die Wohnung im obersten Stockwerk eines mittelgroßen Hauses. Das Treppenhaus, das zur Wohnung führt, ist eine unschlagbare Reminiszenz an das Ruhrgebiet der frühen Schimanski-Tatorte. Hier ist die Zeit stehen geblieben.
In der Wohnung auch – zumindest was die Einrichtung und den Stand von Renovierungen und Reparaturen angeht. Sie ist voll mit Andenken an die Vergangenheit. Das Heute oder eine Zukunft existiert in diesen vier Wänden aber nicht mehr.

Es ist unaufgeräumt, teils schmutzig. Überall stapeln sich Sachen.

Ich gehe durch den Flur ins ehemalige Arbeitszimmer. Das hat seine Funktion aufgegeben und wird nun von einem wuchtigen Pflegebett dominiert. Daneben eine Campingliege, die in etwa zu dem Zeitpunkt hätte ausgemustert werden müssen, als Horst Schimanski in Rente hätte gehen sollen. Sie dient als Schlafplatz für ihn. Sie liegt im Pflegebett und atmet schwer. Es ist erkennbar, dass die letzten Stunden oder Minuten ihres Lebens begonnen haben.

Er begrüßt mich und ist ganz ruhig. Ich bemerkte rasch, dass er sich der Situation bewusst ist. Er weiß was bald passieren wird, möchte aber nicht alleine sein. Deshalb bin ich nun da – das ist meine Rolle in diesem Moment.

Wir unterhalten uns. Ich erfahre in kurzer Zeit viel über ein langes gemeinsames Leben. Auch über die letzten Jahre, ihre Krankheit. Man hatte es sich gemeinsam anders vorgestellt. Nun kommt es anders.

Augenscheinlich sitzen wir bei diesem Gespräch im Elend. Ein Foto der Situation würde viele Menschen zum Weinen bringen. Er aber strahlt einen Stolz und eine Würde aus, die die Situation völlig dominiert und das Drumherum ok werden lässt.

Es ist seine Welt. Ich darf sie für einen Moment besuchen.

Wir sitzen da, reden, schweigen, reden. Irgendwann ist es klar, sie ist gestorben. Ich warte, bis er es für sich benennen kann. Er ist ganz klar, er hat darauf gewartet.

Ich bleibe noch einige Zeit da, wir besprechen praktische Dinge, die nun zu tun sind. Ich beantworte Fragen.

Dann bittet er mich zu gehen. Er wolle jetzt schlafen. Sie bleibe noch bis zum nächsten Morgen.

Ich verabschiede mich.

Wir wünschen uns oft, mit möglichst offenen Augen durch die Welt zu laufen, sie so wahrzunehmen wie sie ist. Ich gehöre auch dazu, auch wenn ich weiß, dass wir uns unsere Wahrheiten selber konstruieren. Auf Basis unserer Herkunft, Erziehung, Gene und Erfahrungen.
Verleugnung ist ein oft Schimpfwort. Jetzt weiß ich, dass Verleugnung auch ein Segen, eine Kraftquelle und eine zeitweise Durchhaltehilfe sein kann.

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