Suizid.

Von Christoph Palmert Aug. 29, 2020

Mai 2006: Ich fahre die kleine Straße entlang, die zu meiner Wohnung führt. Vorbei an der Volksbank. Ich sehe einen VW mit dem Kennzeichen meines Vaters, darin mein Vater. Eigentlich sollte er knapp 300 Kilometer entfernt sein, denn ich bin an meinem Studienort und mein Vater sollte nicht hier sein.

Ich freue mich, bin überrascht und ahne, dass es etwas zu sagen gibt. Ich halte an. Er hinter mir, wir steigen aus und ich frage so etwas wie „Was machst Du denn hier?“. „Ich konnte es Dir nicht am Telefon sagen“, sagt mein Vater, „Dein Patenonkel ist tot.“

Ich stocke. Hier auf der Straße, gegenüber der Volksbank, ist kein Platz für Fragen und Trauer. Wahrscheinlich hatte mein Vater sich diese Situation auch anders vorgestellt und gewünscht. Jedoch rechne ich ihm seine spontane Offenheit hoch an – bis heute.

Wir fahren die wenigen restlichen Meter zu meiner Wohnung hintereinander her, steigen aus. Auf der Fahrt spiele ich im Kopf durch was passiert sein könnte. Mein Patenonkel hatte einen gefährlichen Beruf, wahrscheinlich gab es einen Unfall der ihn das Leben kostete. Ich denke an den großen, starken Mann mit viel Witz, Lebensfreund und Ideen.

„Was ist passiert?“

„Wir haben heute Morgen erfahren, dass er sich das Leben genommen hat. Ich bin direkt zu Dir gefahren.“

„Danke.“

Wir nehmen uns in den Arm. Ich gehe in meine Wohnung, packe einige Dinge und wir fahren im Wagen meines Vaters los nach Hause – ganz selbstverständlich, alles andere ist jetzt egal. Wir reden gar nicht darüber.

Ich weine nicht. Auch im Laufe des weiteren Tages wird es nur wenige Tränen geben. Nur am Abend, als ich mit zwei Freunden darüber rede, nehmen sich die Emotionen ihren Raum. Ich weine hemmungslos. Die Freunde tun genau das Richtige: sie nehmen mich in den Arm, solange ich es brauche. Mehr nicht.
Auch auf der Seebestattung, etliche Zeit später, wird es wenig Tränen geben.

Was herrscht, ist eine unendliche Leere, Stille und das Gefühl, rein gar nichts zu verstehen.

2020: Noch heute prägen mich diese Tage und Wochen vor 14 Jahren wie nur wenige Dinge in meinem Leben. Sollte ich mal in die Situation geraten, den Tag zu benennen, an dem ich erwachsen wurde, dann würde ich diesen Tag nennen.

Seither ist viel passiert, viel Gutes, viel Schlechtes. Vieles Vergangene ist vergessen. Dieser Tag bleibt.

Mittlerweile arbeite ich seit vielen Jahren ehrenamtlich in einem Bereich, der sehr viel mit der Beratung und Betreuung von Menschen in suizidalen Situationen zu tun hat. Hat der Suizid in meinem eigenen Umfeld mich zu dieser Tätigkeit gebracht? Ich sage ja.

Jährlich sterben 9000 Menschen deutschlandweit durch Suizid. Sie beenden ihr Leben durch selbst durchgeführte Vorgänge und Techniken. Unter Menschen, die sich professionell mit dem Thema auseinandersetzen, gibt es die Diskussion, ob man überhaupt noch von einem „Selbstmord“ (= zu brutal) oder einem „Freitod“ (= zu heldenhaft) sprechen sollte. „Suizid“ ist technischer, weiter entfernt und gilt daher als Begriff der Wahl.
Kann es aber einen richtigen Ausdruck für etwas Unbegreifliches geben?

9000 Suizide hinterlassen, nach meiner eigenen Pi-mal-Daumen-Rechnung, mindestens 27.000 unmittelbar betroffene Menschen, eher mehr, die jedes Jahr unmittelbar von einem Suizid im engsten Umfeld betroffen sind.

Zum Vergleich: 2019 starben in Deutschland 3059 Menschen bei Verkehrsunfällen. Die Chance, von den Folgen eines Suizids betroffen zu sein, ist statistisch also dreimal höher als mit denen eines Verkehrsunfalls konfrontiert zu werden.

Und trotzdem habe ich mich im Frühsommer 2006 alleine gefühlt.
„Das macht doch keiner. Niemand kennt jemanden, der sich das Leben genommen hat. Außer man arbeitet vielleicht in der Klappse!“ Solche Gedanken kamen bei mir auf. Es gab niemanden auf dessen Erfahrungen ich mich hätte stützen können. So wie es bei anderen einschneidenden Ereignissen oft ist, etwa wenn man ein Kind erwartet oder damit rechnet, dass ein Angehöriger durch eine Krankheit sterben wird.

Suizide hinterlassen einsame Menschen. Und vielleicht übertragen sich die Fragezeichen und die Hilflosigkeit des Gestorbenen auf die, die zurückbleiben. Die, die nun lernen müssen damit umzugehen.

Wie?

Für die Tat, den Tod ist nur ein Mensch verantwortlich: der Suizidant. Sonst niemand.

Niemand würde sich jemals fragen „Warum ist dieser oder jener Mensch heute Vormittag einkaufen gegangen?“, „Warum hat er oder sie sein Ei nach sechs Minuten aus dem kochenden Wasser gehoben?“, „Warum hat er oder sie zuerst seinen linken- und dann seinen rechten Schuh angezogen?“.
Diese Fragen führen zu nichts und bleiben für immer unbeantwortet, weil es auf sie keine gescheiten Antworten geben kann.

Und trotzdem stellen sich Angehörige Fragen dieser Art nach einem Suizid immer und immer wieder.
„Warum hat er oder sie das getan?“, „Hätte ich etwas merken müssen?!“, „Wie hätte ich es verhindern können?“

Auch ich habe mir im Jahr 2006 diese Fragen gestellt, habe das letzte Telefonat immer wieder seziert und auseinander genommen. Habe Situationen ex post umgedeutet, reingezoomt, rausgezoomt. Verstanden habe ich trotzdem nicht mehr. Warum? Weil es keine Antworten gibt. So banal es klingt: Es gilt zu akzeptieren, dass es so ist wie es ist und dass niemand eine Schuld trägt. Diese Erkenntnisse haben mir Heilung gebracht. Es tut noch immer weh, das wird es auch immer tun, jedoch ist es ok.

Es herrscht ein Konsens darüber, dass Medien kaum über Suizide berichten. Nur sehr wenige dieser Taten finden Einzug in die Tagespresse. Meist dann, wenn es sich um eine prominente Persönlichkeit handelt, deren Lebensende sowieso jedem auffällt.

Hintergrund dieses Konsens ist der Werther-Effekt. Als Goethe 1774 „Die Leiden des jungen Werthers“ herausbrachte, folgte dem Suizid des Protagonisten in der Fiktion eine Reihe von Selbstmorden in der echten Welt. Das Buch wurde vielfach verboten und der Effekt zunehmend wissenschaftlich untersucht. Die Ergebnisse führten zum Schluss, über Suizide nur sehr begrenzt zu berichten.

Gleichzeitig erhebt dieses Nicht-Berichten den moralischen Zeigefinger und sagt: „So etwas tut man nicht!“
Als ich vor einigen Tagen im Social-Media-Status einer Bekannten las, dass sich der Suizid ihrer Mutter nun zum ersten Mal gejährt habe, war ich traurig und erschüttert. Gleichzeitig empfand ich dieses Posting als mutig, stark und zutiefst menschlich. Als Würdigung ihrer verstorbenen Mutter und als Teil ihres Trauerprozesses.
Denn, auch wenn man es „eigentlich nicht darf“, muss diese Bekannte damit umgehen, dass es passiert ist. Allen medialen Regeln und Effekten zum Trotz.

Dem Werther-Effekt gegenüber steht der Papageno-Effekt. Papageno, ebenfalls eine berühmte fiktionale Figur, diesmal aus Mozarts „Zauberflöte“, ist unglücklich verliebt. Papageno will daher sein Leben beenden. Sein Suizid wird durch drei Knaben verhindert (über deren potenzielle Traumata niemand spricht ;-). Am Ende der Oper ist alles gut, Papageno verliebt, verlobt, verheiratet und glücklich. Der Papageno-Effekt postuliert, dass eine angemessene Auseinandersetzung mit Suizidalität und Auswegen aus Krisen auch Suizide verhindern kann. (Quelle: vgl. Link)

Was ist nun richtig?
Ich weiß es nicht!

Ziehen Suizide Suizide nach sich? Ja, das ist fundiert bewiesen. Ich selber weiß, dass ein Suizid im näheren Umfeld plötzlich einen neuen Denkraum eröffnet. Eine Selbsttötung ist plötzlich nichts Abstraktes mehr, nichts mehr, das von weit hergeholt scheint. Sie ist plötzlich da und es sind nicht mehr nur die anderen die betroffen sind. Man selber sitzt mitten drin. Plötzlich gibt es diese Option und den Gedanken „Aha, man kann sich also auch selber umbringen, die und der haben es ja gerade bewiesen!“
Diese Erkenntnis kommt zu einer Zeit, in der man völlig hilflos und auf der Suche nach Auswegen ist. Und Suizid kann so ein Ausweg sein.

Ich persönlich glaube nicht, dass ein intimo-quodam-circulo-Suizid (also ein Suizid im engsten Familien- und Freundeskreis) einen völlig außenstehenden Menschen so erschüttern kann, dass er sich ebenfalls selber das Leben nimmt. Es sei denn, er oder sie sind bereits psychisch krank oder haben bereits suizidale Gedanken. Meine unwissenschaftliche Behauptung zum Werther-Effekt lautet daher: ja, aber… man darf nicht außer Acht lassen, dass der Charakter aus dem Buch eine Identifikationsfigur für Jugendliche darstellte. Er war quasi ein Pop-Star des Jahres 1774. Seine Leiden wurden durch das Buch miterlebt. Ebenso seine Conclusio. Das macht die nachfolgende Suizidwelle erklärbarer.

Mit einem völlig Fremden kann so eine Identifikation nicht stattfinden.

Trotzdem bringt ein Suizid den Gedanken an einen Suizid ins Spiel und daher ist es absolut korrekt, dass die Medien sich sehr vorsichtig mit diesem Thema auseinandersetzen.

Suizidprävention besteht meines Erachtens aber auch darin den Angehörigen Raum zu bieten und ihnen nicht zu verbieten über das Erlebte öffentlich zu berichten. Öffentlich bezieht sich hier vor allem auf das persönliche Umfeld, die Nachbarschaft, die Kollegen, usw.
Dies geschieht in vielen Fällen nur unzureichend oder gar nicht. Vielmehr wird das Thema an den Rand gedrängt. Und somit auch die Betroffenen.
Wird der Suizid zum Tabuthema bekommt er einen Krankheitswert und schadet den Angehörigen psycho-sozial.

Was kann ich also tun?

Suizide sind nie gänzlich zu verhindern, darüber müssen sich Angehörige und Helfer stets im klaren sein. Es gibt Situationen und psychiatrische Erkrankungen die mit dem Tod enden, egal wie geschickt und engagiert interveniert und geholfen wird.

Ebenso gibt es viele tolle Möglichkeiten und Chancen Menschen in suizidalen Situationen zu helfen oder, wenn ein Suizid stattgefunden hat, den Angehörigen zur Seite zu stehen.

Wie kann das funktionieren, einem suizidalen Menschen zu helfen?*

  • Sie sind nicht als Helfer nicht alleine! Beziehen Sie weitere Personen und vor allem professionelle Helfer ein.
  • Wenn Sie das Gefühl haben, dass Ihr Gegenüber an einen Suizid denkt, dann fragen Sie konkret danach!
  • Fragen Sie weiter: handelt es sich um Suizid-Gedanken oder Suizid-Absichten?
  • Gibt es konkrete Vorstellungen oder Planungen?
  • Gab es bereits Suizidversuche in der Vergangenheit?
  • Welche finanziellen oder familiären Sorgen bestehen?
  • Nehmen Sie Gefühle und Emotionen Ihres Gegenübers vorbehaltlos an und versuchen Sie nicht diese „weg zu reden“.
  • Bauen Sie eine Beziehung auf, die fehlt Ihrem Gegenüber gerade wahrscheinlich.
  • Nehmen Sie Ihr Gegenüber so an wie es ist. Auch wenn es schwer fällt!
  • Zeigen Sie, dass Sie jetzt da sind und den Kontakt ernst nehmen.
  • Verzichten Sie auf Diskussionen und Argumentationen.
  • Welches Gefühl löst Ihr Gegenüber in Ihnen aus? Benennen Sie es!
  • Legen Sie Ihre Wertmaßstäbe bei Seite. Es geht jetzt um die Erlebniswelt Ihres Gegenübers.
  • Schauen Sie auf die akuten Bedürfnisse Ihres Gegenübers. Um die geht es jetzt.
  • Achten Sie auf Ihre Impulse.
  • Verzichten Sie auf vorschnelle Tröstungen, Ermahnungen und Verallgemeinerungen. Die helfen Ihnen, nicht Ihrem Gegenüber.
  • Halten Sie Ratschläge zurück. Die sind gut gemeint, kommen wahrscheinlich aber nicht an und demotivieren nur.
  • Sie sind kein Lehrer (zumindest nicht jetzt gerade). Vermeiden Sie Belehrungen.
  • Halten Sie die akute, unschöne Situation mit aus und spielen Sie sie nicht herunter. Das geschieht rasch zur Selbstentlastung, hilft Ihrem Gegenüber aber nicht.
  • Fragen Sie dosiert. Hören Sie zu und verzichten Sie auf das Ausfragen, auf Bewertungen und Analysen. Dafür gibt es jetzt gerade keinen Raum. *(Alle hier genannten Punkte sind angelehnt an die Ausführungen in „Krisenintervention und Suizidverhütung“ von Sonneck, et. al., 3. Auflage)
  • Weitere wertvolle Hilfestellungen bietet auch der „Krisen-Kompass„, die App der TelefonSeelsorge. Das Motte der App: „Bleib am Leben. Diese App kann Suizide verhindern.“

Wie unterstütze ich Angehörige nach einem Suizid?*

  • Nehmen Sie Gefühle und Emotionen Ihres Gegenübers vorbehaltlos an und versuchen Sie nicht diese „weg zu reden“.
  • Enttabuisieren Sie das Thema Suizid. Etwa durch den Hinweis auf die Anzahl der Fälle pro Jahr.
  • Fördern Sie aktiv positive Erinnerungen an gute gemeinsame Zeiten. Lassen Sie Ihr Gegenüber erzählen. So erweitert sich der Blickwinkel und nicht nur der Suizid steht im Mittelpunkt.
  • Beteiligen Sie sich nicht an Diskussionen um die Schuldfrage. Stellen Sie stattdessen die Gefühle und den Schmerz der Betroffenen in den Vordergrund. *(Alle hier genannten Punkte sind angelehnt an die Ausführungen in „Praxisbuch Krisenintervention“, Alexander Nikendei)

Das alles kenne ich heute, weiß es und kann es anwenden. Vor 14 Jahren, als Betroffener, wusste ich davon nichts. Hätte es mir geholfen und der „Heilung“ gedient? Mit Sicherheit.
Mir hat es seinerzeit geholfen, dass meine Familie eng zusammengerückt ist. Wir haben unsere Trauer geteilt und es gab Platz, alle Gefühle ausdrücken zu dürfen. Zur Trauer gesellten sich irgendwann auch Wut, Angst und andere Emotionen. Alles hat seinen Platz gefunden, durfte sein und das so lange wie nötig. Wir haben meinen Patenonkel nie begonnen zu glorifizieren und haben trotzdem einen wertschätzenden Umgang mit allem gefunden, was wir mit ihm erleben durften. Etwas zeitversetzt habe ich mir auch professionelle Hilfe bei einem Therapeuten gesucht, ein weiterer wertvoller Schritt.

Ich gönnen niemandem einen Suizid im eigenen Umfeld erleben zu müssen, gleichzeitig wünsche ich jedem, der es erleben muss, dass er oder sie es so verarbeiten darf, wie es mir möglich gemacht wurde.

Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sprechen Sie mit anderen Menschen darüber. Hier finden Sie – auch anonyme – Hilfsangebote in vermeintlich ausweglosen Lebenslagen. Per Telefon, Chat, E-Mail oder im persönlichen Gespräch.

Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Telefonnummern sind 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222. Der Anruf bei der Telefonseelsorge ist nicht nur kostenfrei, er taucht auch nicht auf der Telefonrechnung auf, ebenso nicht im Einzelverbindungsnachweis.

Weitere Angebote finden Sie hier https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/suizid-hilfe-und-selbsthilfe-bei-gedanken-um-tod-auch-anonym-a-919068.html

Der Blogpost barrierefrei vertont von Christoph Palmert.

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