Gabriela steht vor der großen Kirchentür und schnauft tief durch. Puh, das waren viele Informationen und vieles hat sie gar nicht richtig verstanden.
Hier unten gibt es also Häuser die ausschließlich für den Senior-Chef gedacht sind, obwohl er da nicht wohnt. Richtig weitergeholfen hat Gabriela das Gespräch nicht.
Es wird heller und heller. Ein schöner Dezembertag beginnt und Gabriela läuft los. Wohin weiß sie selber nicht. Die ersten Läden öffnen und Gabriela bekommt langsam Hunger und Durst. Mmmhhhh… und warum riecht es hier so lecker? Sie schaut sich um und sieht ein großes Bäckereischild vor sich.
Das kennt sie. Wäre sie jetzt nicht hier, dann wäre sie, wie fast alle Engel in dieser Zeit, in der Weihnachtsbäckerei eingesetzt. Honorius, der Bäckereimeister, würde über jeden Keks, jeden Stollen und jeden Lebkuchen einzeln wachen. Er hat große Qualitätsansprüche. Bei ihm verlässt nur das Allerbeste die Backstube. Und weil vor Weihnachten so viel zu backen ist, ist jeder Engel in dieser Zeit für Honorius eingeteilt.
Und hier, vor dieser Bäckerei, riecht es fast so lecker wie in der Himmelsbäckerei. Sie kauft sich zwei Brötchen und eine Flasche Wasser.
„2 Euro 80“, sagt die freundliche Bäckereifachverkäuferin und Gabriela nimmt den Betrag genau passend aus ihrer Hosentasche.
Gedankenverloren läuft sie weiter durch die Straßen der Stadt. Wohin soll sie nun gehen? Wie kann sie ihre Mission starten? Bisher ist ja noch nicht wirklich etwas passiert. Die Brötchen und das Wasser geben ihr neue Kraft und tun gut,
„Darf ich die Flasche haben? Sie ist ja ausgetrunken.“
Gabriela schreckt aus ihren Gedanken hoch.
„Was? Bitte, was…?“. Erstaunt schaut sie den Mann neben sich an.
„Ob ich die Flasche haben kann?“, antwortet der Mann und lächelt Gabriela aus einem fast zahnlosen Mund freundlich an.
„Warum?“
„Weil ich das Geld gut gebrauchen kann.“
„Welches Geld?“, Gabriela weiß nicht um was es gerade überhaupt geht. Geld? Die Plastikflasche in ihrer Hand kann doch nicht allzu viel wert sein. Ob der Mann sie weiterverkauft? Seltsames Geschäftsmodell. Aber gut.
„Hier“, sagt sie und gibt dem Mann die Flasche.
„Danke“, antwortet dieser. „Aber entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Otto Kahlkowski. Angenehm!“
„Gabriela.“, antwortet Gabriela.
„Die meisten nennen mich aber Kahl“, sagt der Mann und streicht sich dabei über seinen fast haarlosen Kopf. „Danke für Deine Hilfe, Gabriela.“
„Welche Hilfe?“
„Die Flasche. Die kann ich doch abgeben und kriege dafür das Pfand. Wenn ich mehrere Flaschen zusammen habe, dann kann ich mir von dem Pfandgeld was zu essen kaufen.“
„Ach so, Du hast Hunger?“, Gabriela schaut ihn an und gibt ihm ihr zweites Brötchen. „Hier!“
„Wow, danke. Sie sind ja ein Engel, junge Dame. Danke!“
Jetzt ist Gabriela völlig überrumpelt. Sie hat doch alles beherzigt was man ihr gesagt hatte, so dass sie sich nicht als Engel zu erkennen geben würde. Das überfordert die Menschen, hatte man ihr oft gesagt. Wie hat sie sich denn nun verraten, so dass Kahl ihr Geheimnis so schnell entdecken konnte.
„Woher wissen Sie das?“
„Was?“
„Dass ich ein Engel bin!“
„Ich bin seit mehr als 20 Jahren Menschenbeobachter. Und ich erkennen einen Engel wenn ich einen seh´. So ganz zufrieden sehen Sie aber auch nicht aus, junge Dame. Was ist los? Kahl hört gerne zu.“
Gabriela ist nun endgültig erstaunt. Ein Mensch der ihr Fragen stellt und ihr zuhören möchte. Das hat sie gesucht und jetzt läuft ihr so einer direkt vor die Füße.
„Raus damit“, unterbricht Kahl ihre Gedanken.
„Ich möchte mit den Menschen über Weihnachten sprechen. Aber bisher kein Mensch mit mir.“
Kahl prustet los. „Das ist aber auch ein seltsames Anliegen. Aber: ich habe ja gesagt, dass ich zuhöre. Was möchtest Du über Weihnachten wissen?“
„Brauchen die Menschen noch Weihnachten? Was muss sich an Weihnachten verändern damit die Menschen es wieder gut finden?“
„Wow, das ist aber eine schwierige Frage. Da muss ich erstmal nachdenken. Weihnachten, hmmmm, Weihnachten… Menschen… ändern.
Näää, Weihnachten finden die Menschen gut. Da ist ja immer was los und alle freuen sich auf den 24. Da gibt es Geschenke und alle gehen in die Kirche und alles blitzt und blinkt und es gibt Weihnachtsmärkte. Näää, ich glaub schon, dass die Menschen Weihnachten mögen. Abgeben will das, glaub´ ich, keiner.“
„Und Du? Was sagts Du zu Weihnachten?“, ergänzt Gabriela ihre Frage.
„Ich bin immer froh wenn es vorbei ist. Weihnachten und drumherum ist das Geschäft immer schlecht. Alle sind drinnen und man kann kaum jemanden um eine Geld- oder Flaschenspende zu Gunsten der Otto-Kahlkowski-Stiftung bitten. HäHä. Näää, Weihnachten ist nichts für mich. Früher – als Kind – das war das schön. Da ham´wa´uns immer rausgeputzt und schön gefeiert. Aber das ist lange her. Heute ist´s gut wenn´s vorbei ist.“
„Das ist aber traurig“, platzt es aus Gabriela heraus. „Für Dich gibt es kein Weihnachten? Was wünschst Du Dir denn für dieses Jahr?“
„Dass ich im Obdachlosen-Asyl ein Zimmer bekomme. Im letzten Jahr was alles voll. Da hab ich´s mir an meinem Lieblingsplatz vor Kaufhof gemütlich gemacht. Drumherum standen sogar ein paar Weihnachtsbäume vom Weihnachtsmarkt.“
„Du schläfst draußen?“
„Ja, was dachtest Du denn? Ich bin diplomierter Land- und Stadtstreicher. Da ziemt es sich nicht allzu oft drinnen zu nächtigen.“ Kahl, lächelt und zwinkert Gabriela an. „Wenn Du was über Weihnachten wissen willst, wirklich ergründen willst um was es geht, dann sprich doch mit Kindern. Weihnachten ist doch ein Kinderfest.“
„Wo finde ich Kinder?“
„Keine Ahnung. In der Schule oder im Kindergarten.“
„Danke!“
„Bitte, alles Gute. Und wenn Du mal weitere Fragen hast: Kahl ist immer irgendwo in der Nähe.“
„Danke!“
Gabrielas Kopf ist nun endgültig voll. Puh, das hatte sie sich alles leichter vorgestellt.