Ich sitze in der Sonne, 50 Meter von meiner favorisierten Waldgastronomie entfernt. Die Erbsensuppe auf meinen Knien dampft und ich genieße die Sonne, die meine selbsttönenden Brillengläser selbstönt. Es ist einer der ersten Tage nach dem hoffentlich letzten Wintereinbruch des Jahres. In den Tagen zuvor waren wir durch extrem mieses Wetter ins Haus gefesselt. Eine Durststrecke. Nun unterbrochen durch dieses herrliche Mittagessen in der Natur.

Ein schicker elektrischer Mittelklassewagen fährt fast lautlos an uns vorbei. Ich nutze ihn zur x-ten Ermahnung meiner Kinder, dass Autos zunehmend geräuscharm werden und man sich im Straßenverkehr nicht nur auf sein Gehör verlassen sollte.
Aus dem Wagen steigen eine Frau und ein Mann. Beide etwa Mitte 70, beide wirken wohlsituiert – zumindest hätte meine Oma ihr Erscheinen so bezeichnet.

Ich esse meine Suppe, und die Reste der Kindersuppe. Langsam entfalten die Hülsenfrüchte ihre natürliche Wirkung. Gut, wir sind ja in der Natur.
Dabei beobachte ich das Paar. Sie holen riesige Bauschuttsäcke aus dem Kofferraum ihres Wagens. Auto, Kleidung und Bauutensilien wollen so gar nicht zusammenpassen. Dann begrüßen sie den Wirt der Gastronomie und beginnen die Säcke mit Unmengen an Kronkorken zu füllen. Sack für Sack verschwindet im Kofferraum des Autos.

Sie laufen hin und her. Irgendwann rufe ich dem Mann zu: „Und was machen Sie jetzt damit?“
„Die gebe ich beim Verwerter ab, dafür bekommen wir pro Kilo ein paar Cents.“

Aha. Das passt jetzt noch weniger ins Bild. Alleine die Kleidung des beiden ist mehr wert als 50 Wagenladungen Bierflaschendeckel.

Ich schweige und schaue den Mann weiter interessiert an.

„Das Geld spende ich dann der Deutschen Krebsgesellschaft. Nicht denen direkt, nicht der Verwaltung, sondern direkt so, dass es der Forschung zugute kommt. Unsere Tochter ist nämlich an Krebs gestorben. Sie war auch unser einziges Kind.“

Ich schaue auf meine Kinder. Sie spielen in einiger Entfernung und ich empfinde plötzlich eine Mischung aus schlechtem Gewissen, unendlicher Liebe und Angst.
Durch meine Arbeit kenne ich Gespräche über solche Themen, bin darin geschult, ausgebildet. Jetzt gerade pendele ich zwischen offener Flanke und aufgesetzt professionellem Verhalten und der damit verbundenen Gesprächsführung. Ich entscheide mich für die offene Flanke.

„Ich weiß, das ist Quatsch. Alleine die Fahrt ist teurer als das was wir für die Kronkorken bekommen…“

„… aber auf diese Weise haben Sie das Gefühl etwas für Ihre Tochter zu tun.“, bricht es aus mir heraus.

„Ja.“

Er geht weiter seiner Arbeit nach. Ich beobachte ihn und seine Frau weiter und bilde mir ein plötzlich ihre ganze Last förmlich sehen zu können.

Ich schaue in meine Geldbörse (eigentlich war es mein Portemonnaie, ich weiß aber gerade nicht wie man das richtig schreibt). 20 Euro sind drin.
Ich falte das Geld. Als er wieder an mir vorbeigeht stehe ich auf, gebe es ihm und wir verstehen uns ohne weitere Worte.

Einige Zeit später ist die Arbeit getan und der Wirt lädt das Paar auf einen Kaffee ein. Sie hat noch etwas zu tun. Er setzt sich in einiger Entfernung zu mir.

„Möchten Sie mir von Ihrer Tochter erzählen?“

Er berichtet ausführlich. Details sollen hier keinen Platz finden. Nur so viel: Das Ehepaar hat Jahre hinter sich, die man seinem schlimmsten Feind nicht gönnen möchte.

Einige Zeit später verabschiedet er sich.

Ich bleibe noch sitzen. Beobachte meine Kinder.
Ja, wir verbringen gerade sehr viel Zeit miteinander. Ja, wir gehen uns täglich auf die Nerven und streiten uns. Ja, sie sind das einzige was in meinem Leben wirklich wichtig ist. Ich will, dass sie selbstständig und flügge werden. Oft wünsche ich mir, dass sie einfach mal nicht da sind. Und gleichzeitig wäre es das schlimmste, wenn sie nicht mehr da wären.
Es gibt keine Garantie für Glück. Das wusste ich auch schon vorher.

Und dieser dankbare Moment bei Erbsensuppe und Kronkorken hat es mir wieder gezeigt.

Alles Gute, fremdes Kronkorken-Paar. Ich wünsche Euch von Herzen alles erdenkliche- und noch mögliche Glück.

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