Ich weiß nicht, ob ich das schreiben soll. Es ist vielleicht noch zu früh, nicht durchdacht genug. Ich sollte nochmal drüber schlafen und etwas beruhigenden Abstand gewinnen. Wenn ich mir diese Frage stelle, ob ich etwas wirklich tun soll: Ist das dann nicht ein eindeutiges Indiz dafür, das genau zu tun, nämlich nicht?
Ich frage mich das gerade wirklich. Und hoffe, dass das Bloggen darüber vielleicht ein wenig die Gedanken sortiert, therapeutisch wirkt. Wenn ich es jetzt nicht aufschreibe, dann könnte das Momentum weg sein. Dann hab ich wieder keine Zeit oder keine Lust – oder vergessen, was ich eigentlich sagen wollte…
Also: Einatmen. Ausatmen. Tippen.
Ich fühle mich derzeit äußerlich ganz okay. Ich bin seit Januar im Home Office, seit März sehe ich die allermeisten meiner Geschäftskontakte nur noch über diesen kleinen Laptop-Bildschirm. Gut aufgelöst und klar und deutlich zwar, weil ich mir kurz vor der Coronakrise noch einen neuen Rechner geleistet habe. Aber: Ich trete in den allermeisten Fällen nur noch virtuell mit Menschen in Kontakt.
Ich hätte gedacht, dass mir das insgesamt viel schwerer fallen würde, dass mich diese physische Trennung von meinen Gesprächspartnerinnen und -partnern, diese elektronisch vermittelte Nicht-Nähe zu ihnen, dieses Sehen-aber-nicht-gesehen-werden deutlich stärker belasten würde. Aber grundsätzlich klappt das erstaunlich gut für mich. Ich hatte das große Privileg, in diesem Jahr so viele Lehrveranstaltungen wie noch nie halten zu dürfen – und das Semester ist noch lange nicht zu Ende. Alleine letzte Woche waren es 24 Stunden – kumuliert also ein ganzer Tag, den ich quasselnd und erklärend, dozierend und schale Witzchen machend vor der „Glotze“ saß. Ein Leben (fast) in der Virtualität. Ich hab zudem etliche Stunden zur Vorbereitung der Seminare und viele weitere Stunden für ein paar Nebenprojekte vor dem Rechner gesessen. Und wenn ich nicht vor dem Laptop sitze, dann – Ihr ahnt es! – hab ich das Smartphone in der Hand. Ich schlafe mit Netflix zur Entspannung ein und wache derzeit mit CNN zur Empörung auf.
Es. Ist. Zuviel.
Klar, würden einige jetzt sagen, dann lass es halt. Problem gelöst. Handy weglegen und zum Spazieren in den Wald gehen. Wo ist das Problem? Du musst Dich halt anstrengen.
Zum Glück gibt es in meinem unmittelbaren Umfeld niemanden, der mit solch einfachen und am Problem völlig vorbeizielenden Schnell-Lösungen kommt. Zum Glück sind meine wenigen „echten“ sozialen Kontakte im real life auch in der Hilfestellung realer. Denn so einfach ist es natürlich nicht. Es ist komplexer und komplizierter und wäre es einfach, würde ich es hier nicht aufschreiben. Ich glaube, dieser ganze Lockdown light und seine virtuelle Bewältigung belasten mich doch stärker als ich es zugeben will, als ich es auf einen oberflächlichen ersten Blick denke. Ich will keinesfalls jammern. Ich will es nur mal festhalten – in der Hoffnung, dass es eine historisch einmalige Sache bleibt.
Es gab Zeiten, da hatte ich wirklich Nomophobie, also die Angst (Phobie) davor, ohne Handy (no mobile) dazustehen. Dass der Akku leer ist. Oder ich es gerade nicht finden kann. Dass ich keinen Empfang habe. Dass ich nicht draufschauen kann, weil es unhöflich wäre. Oder dass es schlicht nicht geht, weil ich gerade im Schwimmbad bin oder so. Es gab Zeiten, da war ich wohl richtig physisch abhängig von der Welt da draußen, die ich nun ganz komprimiert auf meinem kleinen Bildschirm mit mir rumtragen konnte. Damals hätte ich es im Wald ohne Smartphone schlicht nicht ausgehalten.
Diese Nomophobie ist zum Glück gerade nicht so ausgeprägt. Sie ist als Hintergrundprozess zwar immer noch on, ich kann aber ein paar andere Lebens-Apps aktivieren gerade. Ich laufe seit letztem Jahr sehr gerne. Oder, sagen wir so: Es ist kein allzu großer Horror, es zu tun. Ich kann ein paar Stunden am Rechner arbeiten, ohne aufs Smartphone zu schielen. Ich kann entspannt ein Bad nehmen und muss weder Instagram-Stories produzieren (das würde etwas fragwürdige Selfies geben so in der Badewanne) noch muss ich meinen LinkedIn-Status updaten. Ist also alles in Butter?
Irgendwie nicht. Ich bin in den vergangenen Wochen fahrig. Ich bin leicht reizbar, und vieles triggert mich. Ich rege mich zu schnell über zu banale Dinge auf, einfach deshalb, weil sie zu schnell und zu banal sind. Ich werde unfair gegenüber anderen Menschen, weil ich mich selber nicht leiden kann. Ich schimpfe auf andere, weil ich eigentlich über mich und die derzeitige Überforderungssituation schimpfen müsste. Und das wird unter den derzeitigen Bedingungen ja wohl erstmal nicht besser…
Andere haben es gemerkt. Und das ist mir unangenehm. Denn es ist im Internet passiert, jeder kann es lesen. Ich habe mich auf LinkedIn über banale Dinge aufgeregt und bin kindisch damit umgegangen. Jedenfalls weder souverän noch relaxed noch erwachsen. Ein sicheres Zeichen dafür, dass ich derzeit einfach neben der Spur bin.
Christoph hat vor wenigen Stunden vom Laufen geschrieben und dem positiven Einfluss auf seine Psyche. Das geht mir auch so. Nach einigen Kilometern on the road bin ich zu platt, um nachzudenken, zu leer, um zu grübeln, zu erschöpft, um schlecht drauf zu sein. Laufen ist anstrengend und nicht immer eine große Freude, aber ganz oft eine tolle Therapie. Ich bin in diesem komischen Jahr 2020 zum ersten Mal im Training einen Halbmarathon gelaufen, wenige Tage nach meinem Geburtstag im März. Ohne anzuhalten, ohne Schwierigkeiten, einfach so. Es war sensationell. Wenige Wochen später hab ich’s nochmal versucht, einfach so – und es war wieder klasse. Dieses „runner’s high“, von dem die Veteranen erzählen – ein bisschen davon hab ich gespürt, so zwischen Kilometer 14 und 17 hab ich vergessen, dass ich laufe, vergessen, dass es eigentlich anstrengend sein müsste, vergessen, dass ich normalerweise nach acht Kilometern nicht mehr kann. Es war wie ein Vollbad fürs Hirn, das allen Schmutz und Schweiß wegspült.
In diesem Jahr bin ich schon 1000 Kilometer gelaufen, sechs mal über 21 Kilometer. Lächerlich wenig für wahre Läufer, für mich eine Once-in-a-lifetime-Erfahrung. Ich bin stolz auf mich und weiß, dass mir diese Erfahrung auch niemand mehr wegnehmen kann. Vielleicht ist es das, was mich wieder etwas erdet, mich resilienter macht und mich die Dinge, die im Netz passieren, gelassener ignorieren lässt. Vielleicht. Jedenfalls ist es gut, im Lockdown ein solches Ventil zu haben.
So, jetzt hab ich’s doch geschrieben. Und es fühlt sich gut an. Ich muss nicht Recht haben und muss mich nicht positionieren, ich muss keine Kämpfe darüber führen, wer jetzt mehr Expertise hat und wer besser weiß, wie die Dinge zu laufen haben. Ich kann außerhalb der sozialen Medien einfach das tun, was eine amerikanische Turnschuhfirma schon vor Jahrzehnten in ihren genialen Slogan gepackt hat: Einfach laufen. Einfach machen. Just do it.